In glasgrüner Stille (Mystery-Thriller)
...Am Grunde meines Sees liegt eine Geschichte,
die niemals erzählt werden sollte. Wir alle
hatten gehofft, dass die Wahrheit
irgendwann für immer unter einer dicken Schicht aus
Schweigen und Sediment
verschwinden würde. Unser Gewissen konnten wir nie zum
Schweigen bringen. Wie
sollten wir auch, wo wir dem abgrundtiefen Selbsthass doch
immer wieder neues
Futter gaben. Es hat all die Jahre über gnadenlos an uns genagt
und tiefe Löcher
hinterlassen, wo Selbstachtung ihren Platz haben sollte.
Es scheint, als ob der Rand dieser Gruben bröckelt und wir in unsere eigenen
Abgründe
hineinstürzen. Unterdessen sind wir fleißig unserer Arbeit
nachgegangen, haben neue Häuser
gebaut, Hochzeiten gefeiert, Alte beerdigt und
Kinder aufgezogen. Immer war sie präsent
und hat wie eine dunkle Wolke über der
Bucht geschwebt - unsere unverzeihliche Schuld.
Insgeheim haben wir uns
vermutlich gewünscht, einer von uns würde es irgendwann nicht
mehr ertragen und
es laut hinausschreien. Nur wollte keiner derjenige sein - auch ich nicht.
Ich wünschte, ich könnte die letzten Wochen aus meinem Gedächtnis löschen und in
mein
belangloses Leben zurücksinken. Ich würde weiter Tische decken und Betten
beziehen,
zwei Mal im Jahr fort in Urlaub fliehen, den Ort verfluchen und immer
wieder heimkehren,
denn hier gehöre ich ja her.
Nun aber schaue ich zum letzten Mal zurück zum See. Ich habe Bargelow auf der
einzigen
Straße verlassen. Keiner hat mir nachgewinkt oder insgeheim gedacht:
»Sie kommt nicht
wieder.«, denn was ich jetzt tue, ist das Resultat der einsamen
Entscheidung einer einzigen
Nacht, wenn es auch viele Jahre gedauert hat, bis
ich endlich bereit war, sie zu treffen.
Hinter mir im Kofferraum liegen zwei Taschen, die nicht viel mehr enthalten als
ein paar
Kleider und Papiere. Alle Erinnerungsstücke lasse ich hier. Die Bilder
in meinem Kopf muss
ich mitnehmen, egal wohin ich gehen werde. Nichts auf der
Welt kann sie jemals wieder
verschwinden lassen oder meine Schuld verringern.
Sie minimiert sich nicht, indem man
sie durch die Anzahl der Köpfe oder Ausreden
teilt.
Die Straße führt noch ein Stück um den See herum bevor sie abzweigt und im Wald
verschwindet. Ich habe mitten auf der Fahrbahn angehalten und ziehe den
feucht-kalten
Morgenduft unseres Tales durch das heruntergekurbelte
Seitenfenster tief in meine Lungen.
Langsam gleitet mein Blick über den
vertrauten Hort meines bisherigen Lebens, nimmt
Abschied von jedem Haus und
Baum, an Land und im Spiegelbild des Sees. Mein Schicksal
ist es, einen Bann zu
brechen. Wenn unsere Geschichte erzählt ist, wird es kein Zurück
mehr geben. Das neue Bargelow wird, zerschlagen und gesprengt von bitterwahren Worten,
in einer
Woge des Abscheus versinken, so, wie der alte Ort einst in Wasser und Schlamm.
Es ist der Moment, nach dem wir uns im Grunde unserer Herzen alle so lange
gesehnt haben:
der Augenblick unserer Erlösung und Strafe...
*
Wider jede Vernunft rannte ich stolpernd über den
unbeleuchteten, geschotterten Parkplatz
zu meinem Wagen und raste zum Gasthaus
zurück, war einfach nicht bereit, zu akzeptieren,
was ich doch längst wusste.
Atemlos stürzte ich die Stufen zu den Gästezimmern hinauf.
In meinem Kopf schrie
es unentwegt: »Bitte, bitte, bitte…!«
Mit rasendem Herz drückte ich die Türklinke hinunter, schob einen Spalt auf und
lauschte.
Es war still. Die Deckenlampe in Andersons Raum brannte. Zitternd
setzte ich auf dem
fusseligen, alten Teppichboden einen Fuß vor den anderen. Die
Badezimmertür stand
weit offen. Hier drin brannte kein Licht. Aus irgendeinem
Grund ergriff mich dennoch ein
Gefühl panischer Angst, mich diesem Raum zu
nähern. Ich konnte den Puls in meinen Ohren
dröhnen hören. Gegen einen inneren
Widerstand musste ich mich zwingen, die letzten beiden
Meter bis zum Bad zurück
zu legen.
Der einfallende Schimmer der Schlafzimmerlampe genügte, um die grauenhafte
Szenerie
auszuleuchten und mich erstarren zu lassen...
...Vorsichtig lugte ich um die Ecke ins Badezimmer, wo nun die kleine,
altmodische Decken-
funsel aus Kristallglas das morbide Stillleben in ihr
Facettenlicht tauchte. Meine Mutter hatte
sich nicht von der Stelle bewegt. Ihr
erstarrter, ausgemergelter Körper gehörte ins Gruppenbild
des Todes. Nur ihre
rechte Hand bewegte sich in immer gleicher Weise. Sie streichelte
unentwegt über
die kleine Hand Benjamins. Dabei starrte sie ins Leere.
Zwei Tränenströme liefen
glänzend über ihr Gesicht, sammelten sich am Kinn und fielen dann
und wann in
dicken Tropfen auf den alten Bademantel, den sie über ihrem Nachthemd trug.
»Hast du das getan, du bösartiger, eiskalter Mensch?«, flüsterte ich heiser. Sie
hob das Kinn
als würde sie aus einem tausendjährigen Schlaf erwachen und sah
mich einen Augenblick
lang ungläubig an. Ein tiefer Schmerz lag in diesem Blick.
Dann schüttelte sie leicht den Kopf
und antwortete so leise, dass ich es kaum
verstehen konnte: »Nein, mein Kind. Ich habe
das nicht getan.«...
*
...In der ersten Reihe des Seitenschiffes, nicht
weit von ihm entfernt, regte sich etwas.
Eckhard wendete sich rasch dort hin und
schaute direkt in Hinrich Nanssens dunkle Augen.
Er hatte den Kopf eigenartig
zur Seite gelegt und grinste ihn nun an. In dem Moment, in
dem sich ihre Blicke
trafen, löste sich Eckhards eigenes Schmunzeln schlagartig auf.
Erstaunt
wanderten seine Mundwinkel nach unten und plötzlich durchzuckte ihn eine
unheilvolle Vorahnung, die er durch fast unmerkliches Kopfschütteln von sich
abzustreifen
versuchte. Nanssens Gesicht war zwar wie zu einer Art
eigentümlichem Lächeln verzogen,
aber es war nichts Sanftmütiges, Freundliches
in seiner Mimik. Es war die grinsende,
zähnefletschende Grimasse eines wilden
Tieres, bevor es die messerscharfen Zähne tief
in den Hals des Opfers haut und
ihm die Schlagader herausreißt. Die Augäpfel des Mannes
sprangen dabei
blitzschnell von einer Seite zur anderen. Etwas unberechenbar Wirres,
Unaufhaltsames lag in diesem Blick. Eckhard machte reflexartig einen Schritt
zurück
und presste die Heilige Schrift wie ein Schutzschild vor den Bauch...
Steinerne Spuren des Schreckens (aus: „Hexenkinder“ / Arbeitstitel)
»Irgendwo hier müssten
ihre Namen doch stehen. Meine Güte, sind das viele! Wie soll man
sich da denn
nur zurecht finden?« Antons Zeigefinger glitt über die kalte, schwarze, zwei
mal
zwei Meter große Marmorwand am Fuße des säulenartigen Kriegsopferdenkmals.
Selbst
wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte und den Arm hoch streckte, kam
er bei weitem
nicht bis an den oberen Rand der Tafel, auf der die Namen
sämtlicher Gefallener und
Vermisster der beiden Weltkriege aus Engheim und
Umgebung eingraviert waren. Die, an
die das Denkmal erinnern sollte, waren
ausschließlich Männer, ausschließlich Soldaten.
Anton legte eine Wange an
die kühle Wand der Toten, strich sanft über die Einkerbungen
im Stein, ließ
seine Fingerspitzen immer wieder in die rauen Vertiefungen eintauchen.
Er schloss die Augen und fühlte die Buchstaben. So viele Namen, so viele. Hinter
jedem
standen Geburtstag und Todesjahr, falls bekannt. Hinter manchen stand
„verschollen“.
Wie oft war er schon mit
der Kindergartengruppe und der Schulklasse hier draußen gewesen.
Sie waren durch
die Stadt gewandert, vorbei an der Müllverbrennungsanlage, hatten auf
Anordnung
der Erzieher immer einige Minuten still vor dem Monument verharren müssen und
waren dann zum Picknick auf die benachbarte Wiese entlassen worden. Dort durften
sie
anschließend auch toben und spielen. Alles, woran Anton sich richtig
erinnern konnte, waren
die dicken Mayonnaise Sandwichs, die seine Mutter ihm
jedes Mal einpackte, die Langeweile
beim Andächtig herumstehen und die wilden
Spiele, bei denen ihn die Kameraden nie
mitmachen ließen. Er konnte sich nicht
daran entsinnen, dass die Lehrer jemals über den
Sinn dieses Bauwerkes
gesprochen hätten.
Anton suchte weiter nach
den Namen der Verwandten. Die Worte zerflossen allmählich vor
seinen Augen zu
einem unleserlichen Buchstabenbrei. Es schmerzte. Er musste die Brille
absetzen
und über die Augenlider reiben. Dann trat er einige Schritte zurück. Aus der
Entfernung konnte er die Namen nicht lesen und ärgerte sich. Irgendwo mussten
„Eugen
Seidel“ und „Heiner Lohmann“ doch zu finden sein. Er wollte sie für
Florentine finden.
Sie hatte diese Idee gehabt, und außer Sebastian waren alle
dabei. Anton schaute hinauf
zur Spitze der Säule, die zu schwanken schien, weil
die dunklen Wolken schnell darüber
hinweg zogen.
»Es wird bald Regen
geben.«, murmelte er.
Jonathan begann die Namen
der fremden Männer leise vorzulesen, und er rechnete jedes
Mal aus, wie alt
derjenige geworden war: »August Juss, fünfundzwanzig. Friedrich Altmann,
zweiundzwanzig. Martin Groß, siebenunddreißig. Eckehard Groß, zweiunddreißig.
Willi Niedel,
achtzehn.« »Die waren aber alle noch ganz schön jung. Warum sind
die denn bloß in den
Krieg gegangen?«, unterbrach ihn Tim, der im Kopf mit
gelesen und -gerechnet hatte.
»Weil sie mussten.«, erklärte ihm Michael. Seine
Mutter hatte es ihm schließlich so erklärt.
Der Opa hatte ja auch in den Krieg
ziehen und Leute erschießen müssen. Er wollte gar
keinen verletzen, aber er
musste ja.
»Du, das verstehe ich aber
nicht, Michael.«, meinte Tim nachdenklich und ließ den Blick über
die langen
Listen wandern: »Konnten die denn nicht sagen: „Nein, das mache ich nicht.
Die
Leute in den anderen Ländern haben mir nichts getan. Ich kenne da nicht mal
einen.“?«
»Aber Timmy, das ist doch ganz klar. Wenn einer das gesagt hätte, dann
wäre er von dem
Chef hier im Land auch umgebracht worden.« »Von dem Chef selbst?
Alle? Gegen alle hätte
der doch gar keine Chance gehabt!« »Nein, das stimmt.
Aber er hatte ja noch eine Menge
Helfer.« »Und denen hatten die Leute in den
anderen Ländern etwas getan?« »Nein, denen
auch nicht, glaube ich.« »Und warum
haben sie die dann so gehasst?« »Weiß nicht genau.
Vielleicht, weil sie anders
sind.« »Ist anders sein denn schlecht?«
Tim ließ so leicht nicht
locker. Das alles kam ihm reichlich merkwürdig vor. Michael schaute
ratlos zu
den Freunden hinüber. Alle zuckten mit den Schultern. »Nein, Timmy, anders sein
ist völlig in Ordnung.«, rief Florentine da plötzlich: »Schau doch einmal dort
hinüber auf die
Wiese. Siehst du, wie viele verschiedene Blumen und Gräser da
wachsen? Ist das nicht
wunderschön?« Tim lief zur Wiese und ließ sich mitten
hinein auf die Knie fallen. Wie lebendig,
bunt und üppig hier alles
nebeneinander blühte und gedieh. Der kleine Junge spreizte die
Finger
und ließ
die Halme und Blüten langsam hindurch gleiten. Wie herrlich es duftete!
Und wie
wohl
das Farbenmeer den Augen, dem Herzen, der Seele tat! Hier spürte er ganz
viel Leben, vor der
schwarzen Wand spürte er gar nichts.
Tim versuchte, sich
vorzustellen, wie es aussehen würde, wenn es nur grüne, gleich hohe
Grashalme
gäbe. In manchen Gärten bei den Leuten in der Stadt konnte man das sehen.
Ein
Nachbar seiner Eltern stach mit einem speziellen Metallinstrument jedes einzelne
Blatt aus,
das nicht in seinem Rasen wachsen durfte. Manchmal kippte er auch
Gift darauf. Diese
Pflanzen nannte er „Unkraut“, auch wenn sie hübsche kleine
Blüten hatten oder essbar waren.
Was übrig blieb nannte er „schönen, gesunden
Rasen“. Der Nachbar betrat seinen Rasen auch
nur dann, wenn er das garstige,
bedrohliche Unkraut vernichten musste, wo er viel Zeit, Geld
und Mühe hinein
investierte. Im Herbst entfernte er stets akribisch jegliches Laub und jedes
Stück Fallobst vom Rasen, damit er nicht unansehnlich würde.
Tim hatte jetzt begriffen.
Er sprang strahlend auf und verkündete: »Stimmt, anders sein ist
schön!«
Anton hatte unterdessen
fleißig auf der Marmortafel weitergesucht, um Florentine zu erfreuen,
und war
endlich fündig geworden: »Eugen Seidel! Florentine, ich habe deinen Opa
gefunden!«
Er hüpfte hoch und wies in die rechte oberste Ecke der polierten
Wand. Die Kinder drängten
sich um ihn herum und starrten auf die schlichte
Gravur. Tatsächlich, Eugen Seidel. Florentine
war einen Augenblick lang ganz
feierlich zumute. Doch plötzlich zerplatzte das pathetische
Gefühl wie eine
Seifenblase in ihr, denn ihr wurde klar, dass sie hier weder an der Haustür
noch
am Grab des Großvaters stand. Rein gar nichts war von ihm an dieser Stelle,
nicht
einmal ein alter Schuh, den er getragen hatte, keine seiner roten Locken,
kein Brief, in
dem geschrieben stand: Ich lebte.
»Nein, Anton, nein. Du
hast meinen Opa nicht gefunden. Das ist nur sein Name auf einer
kalten,
hässlichen Wand. Mein Opa ist mit einem Kriegsschiff untergegangen. Ich
wünschte,
sein Name würde hier nicht stehen. Ich wünschte, ich hätte einen Opa
gehabt, der mit mir
gespielt und gemalt hätte, einen der mit keinem Denkmal
geehrt wird.«
Obwohl Florentine den
Großvater nie kennen gelernt hatte, war sie nun unendlich traurig.
Was hätte sie
alles von ihm lernen können! Bestimmt hätte er sie auch vor den Eltern und
ihrem
grässlichen Laden beschützt. Und er hätte ihr vom „Paradies“ erzählen können,
von
Lene Lohmann und von seinem besten Freund, dem Herrn Juppi. Der blöde Krieg,
den keiner
leiden kann, hatte ihr das alles weggenommen. Der Krieg - wer war das
nur, wie sah er hinter
seiner Maske aus Maschinen und Gewehren aus, wann kam er
wohl zurück? Die Wut, sie
steckte fest und blähte auf, weil sie ihr Ziel nicht
finden konnte. Wenn dies geschieht,
dann heißt sie Ohnmacht und lähmt den, der
sie in sich trägt.
Es kam ihr auf einmal ganz
seltsam vor, dass der Mensch, den sie „mein Opa“ nannte, bei
seinem Tod nur
knapp zehn Jahre älter als sie selbst war. Das war einfach nicht in Ordnung.
Ein
Opa musste mit weißen Haaren sterben, in einem frisch bezogenen Bett, im Kreise
seiner
Lieben. Und vor den Tod gehörte ein Leben, ein echtes, volles, selbst
gelebtes.
»Mein Leben gehört mir!«,
dachte Florentine erschrocken: »In vier Jahren, wenn die Schule
vorbei ist,
werden sie mich lebendig im Laden begraben! Sie wollen sich mein Leben nehmen
noch ehe es richtig begann.«
Tim merkte, dass seine
große Freundin beinahe weinen musste und griff nach ihrer Hand.
Florentine
schluckte und vermasselte ihren Versuch, krampfhaft zu lächeln. Tim stellte sich
auf die Zehenspitzen und flüsterte in ihr Ohr: »Du kannst ruhig weinen, wenn du
willst.«
Florentine nickte, aber sie mochte vor dieser blöden Wand nicht heulen.
»Omas Bruder Heiner steht
hier unten. Also, ich meine, sein Name.«, erwähnte Anton nun ein
wenig
kleinlaut. Die Doppeldeutigkeit seiner eigenen Worte und deren makaberer Sinn
hallte
ihm in den Ohren nach, und es würgte ihn im Hals. Omas Bruder hatte gar
nicht mehr stehen
können, denn er hatte beide Beine verloren und war gefallen.
Schon wieder log die übliche
Begrifflichkeit derartig unverschämt, dass Anton
gedanklich darüber stolperte und sein klarer,
kindlicher Verstand schier
Purzelbäume schlug: „Verloren“ hatte der junge Mann seine Beine
wohl kaum.
Schließlich passt man auf so etwas Wertvolles aufmerksam auf. Es kommt einem
nicht einfach eben mal so abhanden. Und beim Rennen waren ihm die
durchtrainierten,
prächtigen Athletenbeine auch nicht versehentlich abgefallen
und irgendwo unbeachtet
liegen geblieben. Dass er ohne Beine „gefallen“ war,
leuchtet zwar jedermann ein. Wenig
plausibel war allerdings, dass jeder Soldat
beim Fallen gleich tot ist.
»Verarschung!«, dachte
Anton sauer. Die Erwachsenen, selbst Lene, sprachen immer so
über die Soldaten
und den Krieg. Sogar in den Fernsehnachrichten wirkte es trotz der
Schreckensbilder meistens distanziert und losgelöst vom Leid. Keiner sagte: »Die
Soldaten
hatten Todesangst und höllische Schmerzen... sahen entsetzt ihre
verstümmelten Körper...
mussten kotzen, weil ihr Kamerad neben ihnen
verbrannte... konnten vor Albträumen keine
Nacht schlafen... fürchteten sich
schrecklich vorm Sterben...« Da war immer bloß die Rede
von »massiven Verlusten
auf beiden Seiten«, »Angriffen mit zahlreichen Opfern, auch in der
Zivilbevölkerung« oder »aufgedeckten Massakern«. Niemand erwähnte, dass der
junge Soldat,
der irgendwo auf einer dreckigen Pritsche in einem miesen Lazarett
als zerfetzter Rumpf vor
sich hin vegetierte, auch in vielen Jahren noch so
liegen würde, falls er es überhaupt
überlebte, was man ihm unter den Umständen
womöglich gar nicht wünschen mag.
Nur Herr Joseph war da
anders. Er nannte die Dinge einfach bei ihren wahren Namen, auch
den
scheußlichen.
Vor Antons Innerem Auge
spielten sich fürchterliche Szenen ab. Er sah, wie der athletische
Heiner von
einer Granate getroffen wird und ohne Beine auf schlammigem Boden liegt, wie er
sich, ohne zu begreifen, mit seinen Armen noch ein Stück weiter zieht, wie er
stöhnt und
wimmert, bis all sein Blut und seine Kraft ihn verlassen haben. Er
musste sich schütteln, so
grausig waren die Bilder. Doch die Gedanken sponnen
sich weiter: Wie hatten sie ihn wohl
beerdigt? Ohne Beine? Hatte er überhaupt
ein richtiges Grab oder nur eine schäbige Grube
gemeinsam mit anderen Soldaten,
irgendwo, wo keiner Blumen hinbrachte und weinte?
Hätte Anton doch nur die
Oma nach allem gefragt! Die liebe Oma... Wie war das noch in dem
Buch aus der
städtischen Bibliothek mit den Seelen gewesen? Hatte Lenes Seele vielleicht
schon einen neuen Körper gefunden, einen jungen, gesunden, mit dem sie wieder
auf Bäume
klettern und Äpfel klauen konnte? Hockte sie irgendwo mit Heiner
zusammen, trank echten
Bohnenkaffee und plauderte übers „Paradies“? Oder
schwirrte sie gerade um sie herum und
guckte, was sie hier draußen machten? »Sie
wird wohl bei Sebastian sein und aufpassen,
dass ihm nichts zustößt.«, überlegte
Anton.
Er grübelte darüber nach,
wie der richtige verwandtschaftliche Begriff für den Bruder der Oma
aus seiner
Sicht war. Großonkel? Mit einem Mal wurden ihm die ganzen Gedanken und Gefühle,
die ihn überrollten, zuviel.
»Ich will hier weg! Wenn
ihr nicht mitkommt, haue ich jetzt allein ab.«, polterte er los, und die
Anderen
schauten ihn verwundert an, denn sie ahnten ja nicht, was in ihm vorgegangen
war.
Nur Tim spürte, dass der Gefährte an schaurige Dinge dachte.
»Wir kommen mit dir. Hier
ist es wirklich seltsam. Außerdem wird es gleich regnen.«, entschied
Lisa für
die Gruppe. Mit dem Regen hatte sie Recht. Noch bevor sie die stinkende
Müllverbrennungsanlage passierten, klatschten dicke Tropfen auf sie herab. Sie
fingen an
zu laufen. Nach einigen Metern bemerkten die Freunde allerdings, dass
der dicke Anton und
der kleine Tim zurückblieben und sie warteten. Sie hatten
schon so oft im Regen gestanden.
Durchnässt zu werden war ihnen vergleichsweise
egal.
Die Denkmalsäule
verschwand direkt hinter dem Schornstein der Müllverbrennungsanlage.
»Passt
perfekt!«, dachte Michael...
|
|
Wortquelle Verlag
Wortquelle-Hörbücher
sind mehr als nur
Literatur fürs Ohr.
Der Wortquelle Verlag
stellt sich vor.
mehr...
|